Wenn ich in der Weihnachtszeit die Gottesdienste mitfeiere, dann gefällt
es mir gut, daß rechts und links vom Tabernakel Weihnachtsbäume stehen. Irgendwie stehen sie dort nicht zufällig, denn sowohl die Bäume als auch der Tabernakel greifen das uralte biblische Zeichen
des Lebensbaumes auf.
Diese Idee für die Gestaltung des Tabernakels hatte Pfarrer Polders
eines Nachts, nachdem längere Zeit mit einem Modell experimentiert wurde, das ganz anders aussah.
Einige Tage vor Weihnachten 1966 wurde der Tabernakel aufgebaut. So
wie Ambo, Kreuz und Geist-Taube über dem Taufbecken stammt er aus der Werkstatt Polders in Kevelaer. Zunächst sollten am „Lebensbaum“
„Früchte“ in Form von großen Bergkristallen angebracht werden.
Das ewige Licht wollte man oben auf die Spitze des Baumes stellen. All
diese Ideen wurden wieder verworfen, weil der Baum damit zu überladen wirkte.
Die Symbolik des Baumes ist sehr vielfältig. Sein Jahreslauf, der
Blätterreichtum, Blüten und Früchte, sein aufrechtes, fest verwurzeltes Stehen erinnern an viele Parallelen zum menschlichen Leben. Durch seine
in jedem Frühjahr erneuerte Lebenskraft ist er ein starkes Zeichen für die Kraft des Lebens, das stärker ist als
der Tod. Der Baum des Lebens begegnet uns zuerst in der Schöpfungsgeschichte. Dort ist er der Mittelpunkt, die Achse der Welt.
Legenden behaupten, daß das Kreuz Christi auf Golgotha in den Stumpf des zerstörten, paradiesischen
Lebensbaums eingesetzt wurde und so erkannte man auch im Kreuz Christi den neuen Lebensbaum. In einigen Kreuzigungsdarstellungen ist Christus an einem Baum gekreuzigt, in alten Liedern wird das Holz des
Kreuzes als Werkzeug der Erlösung gelobt. Das Kreuz als Lebensbaum - das ist die künstlerische Gestalt unseres Tabernakels.
Obwohl die Gedanken des Künstlers nicht überliefert sind, ist diese Form deutlich zu erkennen. Nach alter
Tradition symbolisiert das Kreuz die Verbindung zwischen Himmel und Erde - zwischen Gott und Mensch. Der
Baum streckt seine Zweige zum Himmel, zu Gott hin aus. Der Querbalken symbolisiert die Welt in der wir leben.
Dort in der Mitte, wo die Balken, wo Himmel und Erde sich verbinden, ist bei uns der Ort der Aufbewahrung des
eucharistischen Brotes. Jesus Christus selbst ist hier gegenwärtig. So, wie in ihm Gott Mensch wird, so ist er
auch in der kleinen Brothostie geheimnisvoll gegenwärtig. Im irdischen Zeichen des Brotes verbinden sich Himmel und Erde, kommt Gott in unsere Welt. Wir Christen begegnen ihm in der Kommunion.
Wenn ich mit Kindern eine Kirchenführung mache, dann vergleiche ich den Tabernakel gerne mit einem „Brotschrank“,
denn das Wort Tabernakel klingt sehr geheimnisvoll und ist schwer verständlich.
Es kommt aus der lateinischen Sprache (tabernakulum) und
bedeutet soviel wie „Zelt“. Damit ist aber nicht einfach ein Camping-Zelt gemeint. Der Begriff erinnert an die Zeit, als die Israeliten während der Wüstenwanderung die Tafeln mit den
zehn Geboten in der Bundeslade mit sich trugen und diese während der Nacht in ein besonderes, heiliges Zelt trugen. Später wurde es vom Tempel in Jerusalem abgelöst. Dort war
Gott gegenwärtig. Dieser Gedanke hat sich bis heute erhalten.
Im Tabernakel ist das Allerheiligste aufbewahrt, denn in den
kleinen Brotscheiben darin kommt uns Gott sehr nah.
Ähnlich ist es in der jüdischen Synagoge, denn dort werden die
heiligen Schriften in einem schmuckvollen Schrank verwahrt, vor dem - wie bei uns - ein „ewiges Licht“ brennt. Unser Tabernakelschrank ist eigentlich ein Tresor. Damit wird noch
einmal die hohe Bedeutung des heiligen Brotes klar. Verstärkt wird die Betonung dieses Wertes durch die kunstvolle Gestaltung des Tresorschrankes.
Mit der Verehrung des Allerheiligsten ist aber keine Verehrung
des Brotes als solches, als Materie gemeint. Ähnlich, wie ja auch bei der Heiligenverehrung nicht die Bilder und Figuren „angebetet“ werden. Verehrt wird immer Gott selbst, der
geheimnisvoll in diesen Zeichen gegenwärtig ist. Daher grüßen wir ihn beim Betreten einer Kirche auch mit
einer Kniebeuge zum Tabernakel hin. Das hat auch den Vorteil, daß unsere Aufmerksamkeit sich sammelt und wir die Gedanken nicht einfach schweifen lassen.
In erster Linie dient der Tabernakel deshalb zur Aufbewahrung des eucharistischen Brotes, damit Kranken und
Sterbenden jederzeit diese heilige Speise zur Stärkung und Wegzehrung gereicht werden kann.
Christus ist in der Gestalt des Brotes gegenwärtig. Das bedeutet, er wartet auf die Menschen, die müde und
verzagt kommen, um Stärkung und Tröstung zu erfahren und auf die, die in die Kirche kommen, um sich einfach im Gebet vor Gott zu stellen und zu sagen: „Herr, da bin ich!“.
„Dies ist ein bewohnter Ort“, schrieb der evangelische Prior von Taizé, Roger Schutz, über die katholische
Kirche dieses Dorfes, nachdem er dort zu einem langen Gebet vor deren Tabernakel eingekehrt war. Auch
unsere Kirche ist ein Ort, wo Gott wohnt, weil wir sie als Gemeinde von St. Marien mit Leben erfüllen.
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